Tübinger Initiative gegen die geplante Bioethik-Konvention
Dr. Rolf J. Lorenz, Erlenweg 40, 72076 Tübingen Tel.: 07071-600111; FAX: 07071-930479
I.
Niemals in der Geschichte der Menschheit hatten wir in einem solchen Ausmaß die Möglichkeit, in die innersten und verborgensten Bereiche der Schöpfung und unserer eigenen Natur Einblick zu nehmen und einzugreifen, wie heute. Diese Entwicklung war und ist ein großer und begrüßenswerter Fortschritt, wo sie hilft, Leben zu schützen, zu retten und zu fördern. Den Forschern und Medizinern. die sich auf diese Weise für das Wohl der Menschen einsetzen, gilt deshalb unser Dank und unsere Anerkennung.
Mit unserem Wissen und unseren Möglichkeiten wächst jedoch auch unsere Verantwortung. Sollen wir wirklich alles erforschen, was wir technisch erforschen können? Sollen wir beispielsweise die genetische Identität des Menschen restlos aufdecken? Und was fangen wir mit diesem Wissen dann an? Welche Eingriffe sind heute möglich und welche werden schon morgen oder spätestens übermorgen möglich sein? Und dürfen wir alles, was wir können? Wie verändert sich unsere Weit, unsere Gesellschaft, unser Zusammenleben durch diese Möglichkeiten?
Die Bürde der Verantwortung - bei Wissenschaftlern und Medizinern, aber auch bei uns allen - wächst mit unserem Wissen und unseren technischen Möglichkeiten. Wenn man nur einen Blick auf die gegenwärtigen Entwicklungen in der Fortpflanzungsmedizin wirft, zeigt sich dieses Problem in aller Schärfe. Da ist die Rede vom "Designerbaby". Tatsächlich wird es Paaren in Zukunft nicht mehr nur möglich sein, zu bestimmen, wann und wieviele Kinder sie haben, sondern durch Methoden der genetischen Untersuchung auch: was für Kinder sie haben - oder vor allem nicht haben wollen.
Eltern haben damit aber auch eine so hohe Verantwortung wie noch nie. Eltern können wissen, daß sie ein behindertes Kind bekommen oder aufgrund ihrer eigenen genetischen Veranlagung die Möglichkeit besteht, daß, wenn sie ein Kind bekommen, dieses Kind behindert sein wird. Wenn es dann technisch möglich und gesellschaftlich akzeptiert ist, eine solche Risikoschwangerschaft zu beenden oder zu verhindern, dann wird man Eltern, die dieses Kind trotzdem bekommen wollen, sehr schnell fragen: Muß das denn sein? Das kann man doch vermeiden!
Die Gefahr zeichnet sich sehr deutlich ab, daß solche Eltern, die das Lebensrecht und die Würde auch ihres behinderten Kindes achten, zunehmend weniger Akzeptanz und Unterstützung erfahren werden. Es gibt heute schon geradezu widerwärtige Kalkulationen, in denen die Kosten für genetische Untersuchungen, für Abtreibung und beispielsweise die Kosten, die das Leben eines an Mukoviszidose erkrankten Kindes verursacht, verglichen werden. Es stellt sich dann für ein Gesundheitssystem und für eine Gesellschaft nicht die Frage: Welche Krankheiten können wir heilen? sondern die Frage: Welche Krankheiten können oder wollen wir uns leisten? Welche Menschen wollen wir uns leisten? Wie muß ein Mensch beschaffen sein, daß er überhaupt leben darf?
Dabei geht es nicht nur um schwerste Schädigungen menschlichen Lebens. Vielmehr läßt sich zwischen den noch zumutbaren und den angeblich nicht mehr zumutbaren Behinderungen und Schädigunoen keine klare Grenze ziehen. Die Zumutbarkeit oder Unzumutbarkeit von Belastungen - das ist eine sehr subjektive Größe. Sie wird aber schon jetzt zunehmend zum entscheidenden - und in der überragenden Mehrzahl der Fälle zum alleinigen - Kriterium zum Beispiel in der Frage des Schwangerschaftsabbruches.
Die genannten Fragen stellen sich übrigens auch im Blick auf Schwerkranke und Alte, also im Blick auf die Euthanasiediskussion. Wie muß ein Mensch sein, daß er noch leben darf? Es darf, darauf müssen wir mit allem Nachdruck bestehen, nicht dazu kommen, daß die Schwächsten unserer Gesellschaft, die Ungeborenen, die Alten und Schwerkranken, allein die Tatsache, daß es sie gibt und daß sie leben wollen, vor anderen zu rechtfertigen haben. Die Rede von einem "wrongful life" bzw. einer "wrongful birth" ist deshalb an sich - jedoch vor allem auch in ihren Gesellschaftlichen Folgen - in höchstem Maße skandalös. Wenn die Geburt eines behinderten Kindes gerichtlich abgesegnet in unserer Gesellschaft als Schadensfall gilt und der Arzt, der eine solche Geburt nicht verhindert hat, auf Schadensersatz verklagt wird, wird in schändlichster Weise mit den obersten Prinzipien unserer Rechtskultur gebrochen. Ärzte sehen in dieser Entwicklung zu recht geradezu eine Perversion ihresStandesethos und ihres Auftrages.
Dies zeigt, welche Gefahren mit den unbestreitbaren Chancen der biomedizinischen Entwicklung verbunden sind. Viele, glücklicherweise auch viele Mediziner, fragen sich, ob wir nicht auf eine schiefe Bahn kommen oder bereits gekommen sind, auf der es kein Halten mehr gibt. Um so mehr gilt es, sich auf ganz grundsätzliche Werte und Prinzipien zu besinnen.
II.
Das nach unserer abendländischen Tradition höchste Rechtsgut ist die Würde des Menschen. Sie steht am Beginn unserer Verfassung, sie ist in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen und der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert. Seinen Ursprung hat der moderne Gedanke der Menschenwürde freilich in der christlichen Tradition. Würde, Gleichheit, Freiheit, Vernunft und Gewissen, die der erste Artikel der Menschenrechtserklärung als "Begabungen" des Menschen nennt. sind jene Eigenschaften, die den Menschen nach christlichem Verständnis überhaupt zum Menschen machen. Sie haben ihren Grund aber nach unserer Überzeugung nicht in der Natur, im Wohlwollen oder der Gnade eines irdischen Gesetzgebers oder überhaupt irgendwo in dieser Welt, sondern allein in Gott. Die Menschenrechte haben ihren Grund in der Würde, die dem Menschen deshalb zukommt, weil Gott ihn nach dem ersten Buch der Bibel "als sein Abbild" geschaffen hat (Gen 1,27). Die absolute Würde der menschlichen Person entzieht sie jeder Bewertung und jedem Vergleich, die den Menschen nach äußeren Maßstäben danach zu unterscheiden trachtet, welchen Wert, welche sozialen Nutzen oder Kosten oder welche Qualität sein Leben hat. Ein Mensch - gleich in welchem Lebensabschnitt und in welcher Situation er sich befindet - hat niemals seine Existenz vor anderen oder vor der Gesellschaft zu rechtfertigen. Jeder Mensch ist um seiner selbst willen da und darf von niemandem verzweckt und benutzt werden.
Dies gilt im Bezug auf Behinderte und Kranke, insbesondere aber auch im Bezug auf das ungeborene Leben. Auch einem Fötus, auch einem Embryo kommen die Menschenwürde - und damit auch die Menschenrechte - uneingeschränkt zu. Diese Würde schließt es aus, ein menschliches Wesen irgendwelchen äußeren Zwecken zu unterstellen. Es bedeutet deshalb eine eklatante Verletzung der Menschenwürde, Embryonen für Forschungszwecke herzustellen oder zum Zweck der künstlichen Befruchtung Embryonen herzustellen, von denen ein Teil eingefroren, vernichtet oder der Forschung zur Verfügung gestellt wird. Eine medizinische Forschung, die beansprucht, dem wirklichen Wohl der Menschen und der Förderung seiner Würde zu dienen, ist von vornherein in ihr Gegenteil pervertiert und verliert jegliche Glaubwürdigkeit, wenn sie auf diesem Weg über Leichen geht und die Würde und das Lebensrecht von Menschen mit Füßen tritt. Wer die Forschung an Embryonen, an Behinderten und Schwerkranken nach der Devise "Der Zweck heiligt die Mittel" verfolgt, macht diese Menschen eben zu einem bloßen "Mittel zum Zweck". Ebensowenig wie ein Mensch für andere Zwecke instrumentalisiert werden darf, darf er auch zum bloßen Objekt der Verfügung anderer gemacht werden. Jeglicher Eingriff in die genetische Identität des Menschen, der keinen unmittelbaren Nutzen für den Betreffenden hat, jeder Eingriff, dessen Auswirkungen auf die nachfolenden Generationen unumkehrbar und unkalkulierbar sind, sowie jede Form von Eugenik und Selektion vermittelst derartiger Eingriffe ist sittlich verwerflich und muß auch rechtlich sicher ausgeschlossen sein.
Im jüdisch-christlichen Verständnis bedeutet der Schöpfungsgedanke weiter, daß die Wirklichkeit als Ganze nicht einfachhin als Material beliebiger menschlicher Verfügung zu verstehen ist, sondern daß sie - den Menschen eingeschlossen - in der Freiheit und Liebe Gottes ihren Grund und Ursprung hat. Gott hat dem Menschen die Schöpfung anvertraut - damit wird aber der Mensch nicht selbst zu Gott. Wenn der Mensch deshalb seinen Auftrag, sich die Erde untertan zu machen. die Schöpfung zu pflegen und ihre Güter zu genießen, annimmt, so darf er zugleich nicht jenen vergessen, der sie ihm anvertraut hat und vor dem er sich zu verantworten hat. Dies gilt gerade auch im Blick auf die Frage nach der medizinischen Forschung und ihrer Anwendung.
Prinzipiell gilt für alle Eingriffe, in besonderer Weise für solche, die die materielle und leibliche Identität des Menschen betreffen, daß sie ihr Ziel in der menschlichen Person selbst haben müssen. Medizinisches Handeln kann nur einen einzigen ethisch verantwortbaren Zweck haben, nämlich das Wohl des Menschen. Forschung wiederum kann keinen anderen Zweck haben, als die Medizin instand zu setzen, dem Wohl und der Gesundheit des Menschen zu dienen. Wissenschaftliche Forschung und Anwendung haben ihren Zweck nicht in sich selbst. Sie müssen deshalb auch vor den jeweils Betroffenen, aber auch vor der Öffentlichkeit rechtfertigen, was und warum sie etwas tun. Es darf im Bereich der biomedizinischen Forschung und Anwendung nicht zu einer Umkehrung der Beweislast kommen, so als ob insgesamt und in den einzelnen Fällen zu begründen wäre, warum wissenschaftlichtechnische Möglichkeiten nicht ausgeschöpft werden. Zu begründen ist jeweils, warum etwas getan wird, und nicht, warum etwas nicht getan werden sollte. Wir brauchen deshalb sehr dringend eine bessere und transparentere öffentliche Diskussion über diese Themen. Sie gehen uns alle an und sind keineswegs nur Sache von Ethik-Experten und Ethik-Kommissionen. Unser aller Leben, das Leben unserer Nachkommen, die Formen unseres Zusammenlebens werden davon grundlegend berührt.
Es konnten hier nur einige kritische Punkte genannt werden, die sich im Zusammenhang mit der heutigen biomedizinischen Forschung und Anwendung, ergeben. Was wir heute ganz klar sehen müssen, ist, daß wir mit dem Zuwachs an Wissen und Einfluß auf die Schöpfung, auf unser eigenes Leben und das Leben der nachfolgenden Generationen unweigerlich die Last einer so bisher noch nie dagewesenen VerantwortunLy zu tragen haben. Sie werden wir angemessen nur wahrnehmen können, wenn wir uns auf verläßliche Grundwerte stützen können. Der Gedanke der Menschenwürde, eingebunden in den christlichen Schöpfungsglauben, bildet eine Grundlage, auf der wir ohne unkritische Blauäugigkeit aber auch ohne Furcht diesen Entwicklungen begegnen können.