Dieser Artikel erschien in "Der kritische Agrarbericht 1998" und wurde mit freundlicher Erlaubnis der ABL Bauernblatt-Verlags-GmbH in Rheda-Wiedenbrück für das 12.Zirkular reproduziert. Er ist seinerseits die gekürzte Fassung eines Essays mit dem Titel "Zwei schlaflose Nächte", den Erwin Chargaff in SCHEIDEWEGE (Nov.1997) veröffentlicht hat.
Erwin Chargaff
Eine Mode geht um auf der Welt die Mode der Bioethik. Alle Mächte haben sich in einer heiligen Heuchelei mit dieser Mode verbündet. Ich will also hier von der Bioethik sprechen, diesem angeblichen Zweig der Ethik, von dem ich den Eindruck habe, daß er verdorrt zur Weit gekommen ist. Wer im vor kurzem erschienenen, leider nicht sehr zufriedenstellenden Cambridge Dictionary of Philosophy das uns immer häufiger begegnende Wort "Bioethics" nachschlägt, wird auf den Artikel über Ethik verwiesen, und dort findet er den in solchen Werken üblichen Morast, aus dem er sich, nicht klüger geworden, allmählich herauszieht. Wenn Ethik das Studium der Moral umfaßt, so ist Bioetliik deren Anwendung auf alles, was sich auf das Leben bezieht. Wir haben es also mit einer neuen Unterabteilung einer uralten Wissenschaft zu tun. Manchem mag dabei ein dumpfes Gefühl sagen, daß oft, wenn etwas anfängt schief zu gehen, es sich als Wissenschaft konstituiert.
Wissenschaften vemehren sich, indem sie sich vorne ein Präfix aufsetzen, wie "Bio", "Geo" oder "Paläo", oder sich mit einem speziellen Adjektiv versehen. In den letzten Jahren hat sich das harmlose und in seiner gegenwärtigen Verwendung recht sinnlose Wort "molekular" als besonders verhängnisvoll erwiesen. So jagen Vorsilben und angeblich qualifizierende Eigenschaftswörter einander in ungezählte Verfilzungen, so daß in manchen Untergruppen kaum zwei Forscher derselben Disziplin anzugehören scheinen, und der Adept der Pathoneurogenetik als einsamer Molekularstylist in die Wüste blickt.
Nun befindet sich der Säulenheilige in einer prekären Lage. Seiner Säule mag er gewiß sein, denn wenn sie ihn nicht trüge, wäre er hinuntergefallen. Aber die Heiligkeit? Da braucht er zusätzliche Versicherungen, und die können nur von der Religion oder der Philosophie geliefert werden. Die Religionen haben. seit es sie gibt, ihr Äußertes getan, um den Gläubigen die Praxis des Guten und die Vermeidung des Bösen aufzutragen. So hat der Glaube der Juden an zwei Stellen der Thora diesen Auftrag in Form der Zehn Gebote klar gemacht, und das Christentum hat sie übernommen. Da der Dekalog seltsamerweise das Lügen nicht formell verbietet, brauchen selbst die modernen Naturwissenschaftler sich nicht ausgeschlossen zu fühlen, wenn sie auch finden mögen, daß Gebote mit ihnen, in ihrer Eigenschaft als Naturforscher, wenig zu tun haben. Den Nomadenvölkern der Urzeit lag nichts ferner als das Frisieren von Forschungsresultaten. 20
Was die verschiedenen Sektionen der Philosophie angeht, hat sich meines Wissens niemand bemüßigt gesehen, das lästige Spiel mit Präfixen, das in den Naturwissenschaften so viel Verwirrung angerichtet hin, auch in der Philosophie vorzunehmen, also zum Beispiel von der Bio-Logik oder der Nekro-Metaphysik zu sprechen. Ist es nur, weil Philosophen einen größeren Sinn fürs Lächerliche haben, oder, eher, weil nur in den Naturwissenschaften angebliche neue Spezialitäten sofort Geysire aus Gold springen lassen? Die Welt war immer weit offen für Scharlatane, aber in der heutigen Medizin und Genetik haben sie ihr wahres Klondike gefunden, besonders wenn man die tiefen Taschen der Pharmaindustrie und die noch immer viel zu spendefreudigen Regierungsinstitutionen in Betracht zieht. Ich entsinne mich genau, wann mir solche Wörter wie "bioethics" zuerst begegnet sind; ich glaube, es war in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre. Um die gleiche Zeit hörte ich auch die Berufsbezeichnung "ethicist". Mir erschienen diese Ausdrücke sehr komisch, denn, wie der "pharmacist" Medikamente verkauft, so stellte ich mir vor, daß der "ethicist" Moral in kleine Flaschen füllt. Es ist bemerkenswert, daß der Begriff der Ethik gerade zu jener Zeit mit einem speziellen Abzeichen versehen wurde, als die Wissenschaften vom Leben unter dem Fahnenzeichen DNA ihre angeblich neugewonnene Molekularität zu spüren begannen, mit deren Hilfe sie die wissenschaftlichen Anschauungen vom Leben in grundlegender Weise veränderten und verbreiterten, ohne sie wirklich zu vertiefen.
Das Leben ist auch heute ein ebenso unbegreifliches Geheimnis, wie es immer gewesen ist. Eines der untrüglichsten Zeichen eines wissenschaftlichen Aufschneiders ist, wenn er sich berufen fühlt, uns das Leben "wissenschaftlich" zu erklären. Das Leben ist nämlich auf der anderen Seite der Kante, an der der menschliche Verstand stehen bleiben muß. Da versagen unsere Sprache und unser Denken. Vielleicht sind die großen Mystiker vergangener Zeiten in ihren Extasen über diesen Rand hinausgekommen, aber wenn sie davon sprachen, so in Worten, die einem Molekularbiologen sehr ferne sein müssen. Das hindert ihn aber nicht zu pantschen wie ein Wilder. Er versucht, jedem lebenden Wesen sein Monogramm einzupflanzen, wenn auch was er zustande bringt meistens nur Graffitti sind.
Vor etwa 30 Jahren ist es leider möglich geworden, DNA-Präparate aus vielen Lebewesen einer Reihe von Manipulationen zu unterwerfen, die ihre Rolle als das bestimmende Element der Genetik bestätigten. Mit "recombinant DNA" hatte es angefangen. Von diesem Augenblick an ergab sich die entsetzliche Gefahr einer irreversiblen Verschmutzung der Biosphäre, indem "neugeschaffene" Lebewesen mit nie dagewesenen genetischen Eigenschaften eingeschmuggelt werden konnten. Es gibt keinen Widerruf eines vermehrungsfähigen Organismus. Nicht viel später kam eine weitere Idiotie, indem das amerikanische Patentamt das erste Patent für ein "Designer"-Lebewesen erteilte. Wie lange noch, bis wir den ersten patentierten Menschen begrüßen und beklagen können?
Die neureichen Forschungszweige, die Molekularbiologie, die Molekulargenetik, die Virologie und die hinterherjappende Immunologie wurden in ihren Zielen und Behauptungen unglaublich arrogant und taten so als wären sie berufen und fähig, die zahlreichen Mängel und Fehler der Natur zu korrigieren und auch den Menschen endgültig zu erklären, was mit ihnen los sei. Die dummdreiste Überheblichkeit einer nicht sehr anziehenden Menschensorte erhob den Anspruch, den Standard für die Zukunft zu errichten. Das Volk, das die Kosten des Gaukelspiels bezahlen mußte, zeigte ein lediglich bovines Interesse für die von den Medien, aber noch mehr von den Forschem selbst, "diesen Teufelskerlen", ausposaunten Entdeckungen m.b.H. Von Schwindel war am Anfang noch wenig die Rede, aber die Art der mit Forschung befaßten Personen begann sich radikal zu verändem: während früher die überwiegende Mehrzahl ein rigoroses Studium einer der exakten Naturwissenschaften Chemie, Physik usw. absolviert hatte, waren es jetzt großenteils Doktoren der Medizin. So begann Greshams Gesetz seine schonungslose Wirkung. Aus jener Zeit stammt mein Aphorismus "Molecular biology is the practice of Biochemistry without a license."
Ich war in einer besonderen Lage. Ich war im Besitz einer Freikarte zum molekularen Hexensabhat, konnte aber nicht mitmachen, denn ich war angeekelt von den vielen Abscheulichkeiten, die im Gange waren und sich dauernd vemehrten. Die Ausbeutung der Erkenntnisse über DNA begann sich in ein Religionssurrogat auszuwachsen, weil Amerikaner schon seit ihren Anfängen durch einen besonderen Hang zu übersteigendem Fundamentalismus ausgezeichnet waren: die Doppelhelix wurde eine pseudoreligiöse Ikone. Alles, was ich tun konnte, war, meinen Befürchtungen einen möglichst starken Ausdruck zu geben. Das geschah in Form eines Briefs an die Zeitschrift SCIENCE, der im Jahre 1976 erschien. Eine deutsche Übersetzung findet sich im "Feuer des Heraklit". Hier ist der letzte Absatz: Diese Weit ist uns nur geliehen. Wir kommen und wir gehen; und nach einiger Zeit hinterlassen wir Erde und Luft und Wasser anderen, die nach uns kommen. Meine Generation oder vielleicht die der meinen vorhergehende hat als erste, unter der Führung der exakten Naturwissenschaften, einen vernichtenden Kolonialkrieg gegen die Natur unternommen. Die Zukunft wird uns deshalb verfluchen.
Die wichtige und zugleich lächerliche Funktion des Bioethikers? In meinem Brief an SCIENCE vor mehr als 20 Jahren, war die Rede von einem vernichtenden Kolonialkrieg gegen die Natur. Wie in allen Kriegen müssen auch in diesem die Waffen gesegnet werden, und hier obliegt es den Bioethikem. Es gibt jedoch einen Unterschied: in Kriegen waren die unterliegenden Waffen nicht weniger heftig gesegnet als die siegreichen; die Bioetiker können nur siegreich sein. Vielleicht hat der eine oder andere etwas besonders Dummes oder verbrecherisches wenn nicht verhindert, so doch hinausgeschoben, aber es ist klar, daß ihre Funktion eine Alibifunktion ist oder, wie es in meiner Jugend hieß, eine Augenwischerei.
Manche von uns mögen schon seit Jahren gefühlt haben, daß
die Natur dringendst einen Ombudsmann benötigt, nur darf der nicht von
den biotechnischen Firmen bezahlt werden. Die Gefahr ist viel zu groß,
um es zu gestatten, in fernen Utopien zu schwelgen. Das ist aber auch der
Grund, daß wir ins Paradoxe geraten, denn jeder Versuch, die Privilegien
eines Ombudsmanns zu erörtern, wird allgemein und durchaus berechtigterweise
als geradezu utopisch abgelehnt werden. Das Mißtrauen gegenüber
Utopien ist das Vorhängeschloß am Käfig unserer
Gegenwärtigkeit. Hier einige leider völlig utopische Beispiele
für die mit Gesetzeskraft ausgestatteten Verfügungen des
Ombudsmannes.
Wenn der einzelne aufgerufen ist, die Leitsätze der Ethik zu befolgen, wird er nur allzu schnell gewahr, daß er nicht weiß, worin sie bestehen. Obwohl die Schlange bei allem, was ihr heilig ist, der Urmutter versprach, sie werde erkennen, was gut und was böse ist, hat die Nachkommenschaft diese wichtigste der Fähigkeiten nicht geerbt. Dennoch haben manche Weisen aus eigener Erleuchtung es zustandegebracht, ein edles Leben zu führen, und viele, denen dieser Segen versagt war, haben trotzdem als sehr anständige Menschen zu leben vermocht. Mehr wird auch von Molekularbiologen nicht erwartet. Leider muß gestanden werden, daß die Naturforschung, wie sie jetzt betrieben wird, nicht geradezu ein Sammelbecken für ethische Kraftnaturen ist, sondem eher für solche, die vom Erfolgsrausch, wenn nicht vorn Goldrausch besessen und vergiftet sind.
Nun wird heutzutage alles, was öffentlich vor sich geht, im blendenden Licht der Heuchelei ausgeführt, und wenig ist jetzt so öffentlich wie die Naturforschung. Wie jede Reklametrommel braucht daher auch diese den Firnis des Ethischen alles muß Hand aufs Herz verlaufen -, und aus diesem Grund wurde die Bioethik erfunden. Dabei hätte man nicht gedacht, daß gerade das Leben, die Natur einen Sanhedrin von Moralhütern erforderten. Dennoch hat sich dieser eher unanziehende Beruf in den letzten Jahren enorm vervielfältigt, so daß es jetzt bioethische Kongresse gibt, endlose Beratungen über eine Bioethik-Konvention für Europa und eine große Spezialliteratur. Die Bürokraten eines angeblich geeinigten Europa zeigen ein lebhaftes Bedürfnis nach bioethischem Händehalten, das es ihnen leicht macht, Maßnahmen zu genehmigen, die vielen Wissenschaftlern bedenklich vorkommen müssen. Keine große Universität ohne ein Institut für Bioethik, kein Spital, keine große Firma ohne bioethische Beratung. Das ganze Zeug ist ein Riesenamulett, das weniger vor einem schlechten Gewissen als vor einem Schadenersatzprozeß bewahren soll. Nun ist die Aufgabe der Bioethiker optimistisch gesprochen ja nicht, wissenschaftliche Sünder aufzurichten, sondern sie am Sündigen zu hindern. Das ist allerdings ein Optimismus, der, fürchte ich, fehl am Platz ist, denn Bioethiker haben in Wirklichkeit keine Funktion, jedenfalls keine ethische Funktion. Wenn sie ehrlich sind und etwas tun wollen, können sie handdeln wie Nestroys Hohepriester Jojakim. Der läuft durch die Straßen von Bethulien, schreit "Weh! Weh! Dreimal Weh!", und erläutert seine Funktion: "Der Zorn des Himmels fällt herab als feuriger Regen auf die Häupter der Gottlosen, doch so wie der Arzt Balsam in die Wunden, so träufle mein Wort Erquickung in die schmachtende Seele. Weh! Weh! Dreimal Wehe!!!" Das dreimalige Ausrufezeichen sollte jeden Bioethiker befeuern, und wer braucht nicht Erquickung?
Ich nehme an, daß die bei Monsanto tätigen Bioethiker von der Firma selbst bezahlt werden, gehören sie doch zum Reklamebudget. Diese Firma hat durch den Import von genetisch veränderten Sojabohnen nach Europa viel lauten Protest hervorgerufen. Ich denke, es gehört zu den vielbesungenen Menschenrechten, daß ein jeder seine Nahrung frei wählen dürfe, ob nun aus weltanschaulichen Gründen, aus gesundheitlichen oder aus narrheitlichen. Nun gehört es zu den Pikanterien dieser Scheinehen zwischen Wissenschaft und Industrie, daß sie ihre Intimitäten, auch die harmlosesten, geheimhalten, solange das Gesetz sie nicht zur Offenheit zwingt. So weigern sich vorläufig die Erzeuger der verschiedenen bereits genetisch verschnittenen Zerealien, diese Tatsache deutlich zu deklarieren. Daraus geht schon hervor, wie wenig Zutrauen die Erzeuger selbst zu der Harmlosigkeit ihrer Produkte haben. Die kommerziellen Moralhüter müssen Meister sein in der Ausübung der reservatio mentalis, denn ihr Beruf ist gezwungen, gleichzeitig auf zwei sehr verschiedenen Bällen zu tanzen. Ich glaube nicht, daß man das Recht hat zu versichem, es gebe Manipulationen am Genom einer Spezies, die für diese garantiert harmlos und für deren Konsumenten garantiert unschädlich seien. Nichts was unwiderrufliche genetische Veränderungen bewirkt ist harmlos. Die Geschichte des sogenannten Fortschritts der Menschheit ist voll von Fehlversicherungen dieser Art. Ist unsere Epoche wirklich die erste, in der die dumme Aufgeblasenheit des Fachmanns keine groben und verhängnisvollen Fehler machen sollte? Vom bioethischen Standpunkt betrachtet, wenn es so etwas gibt, ist es fraglos unbedenklicher, einen Computer zu programmieren als ein Lebewesen.
Die Genetik ist natürlich nicht der einzige Tummelplatz vergeblich erhobener Zeigefinger, sie ist jedoch wahrscheinlich der schicksalsvollste. Nirgendwo ist die Kluft deutlicher, die sich zwischen den modernen Naturforschern und den nicht dazu Gesalbten, also der überwiegenden Majorität, die ich normale Menschen nennen möchte, aufgetan hat. Zum Beispiel hat sich unter den jetzigen Forschern die feste Überzeugung durchgesetzt, daß jedes Experiment, das getan werden kann, getan werden muß. Und getan werden kann viel mehr als soll. Fiat scientia et pereat mundus! Ein Molekularbiologe, dem Geld für irgendeinen Versuch verweigert wird, benimmt sich wie Giordano Bruno kurz vor der Verbrennung. Unsere Welt, die Welt der Lebenden, der Kranken, der Sterbenden ist heutzutage voller Exzesse, so etwas wie die Träume des Hieronymus Bosch, dessen Tageswelt gewiß eine viel menschlichere war als unsere. Wir müssen weit zurückgehen, zu den alten Sequenzen der Kirche, zur großen, jetzt nicht mehr gelesenen Dichtung, um erinnert zu werden, wie die Welt einst aussah, vor dem zweiten Sündenfall der Menschheit, als es noch Mutter gab und Vater, Geburt und Tod, als Dantes selva oscura mehr enthielt als schmutzige Tüten und zerbrochene Schachteln. Wie Kinder jetzt zur Welt kommen. sollte zu manchen Betrachtungen Anlaß sein, aber häufig ist das große Ereignis zu einer schmierigen Transaktion hinabgewürdigt. Ich bin überzeugt, überall ist die Bioethik dabeigewesen, aber ist es ihr je gelungen zu verbreiten, daß der Mensch mehr ist als was man begräbt?
Ein uneingestandenes, von manchen begrüßtes, andere abstoßendes Ziel der modernen medizinisehen Wissenschaften soll das Ende der gegenwärtigen Betrachtungen bilden. Scheute man sich nicht etwas zu sagen, was wie eine Dummheit klingt, würde man dieses Ziel die Abschaffung des Todes nennen. In seiner Romanwelt ist Jonathan Swift den Unsterblichen begegnet, aber wer die Beschreibung des Daseins der Struldbruggs sorgfältig liest, wird dem ewigen Leben gerne entsagen. Tatsächlich geht es heute nicht um die Abschaffung, sondern um die Hinauszögerung des Todes unter Umständen, die früher unmittelbar zu ihm geführt hätten. Aber schon die Antike ahnte, daß ewiges Leben ohne ewige Jugend wenig wert sei. In der Eoslegende wird erzählt, wie Eos ihrem geliebten Tithonos von den Göttem Unsterblichkeit erwirkte, jedoch vergesssen hatte, um ewige Jugend zu bitten. Die Folgen waren bedauerlich. Die bei den heutigen Lebensverlängerungen vorgenommenen Transplantationen von menschlichen Organen werfen zudem Fragen des Gewissens auf, die an die anläßlich der Atomkernspaltung und der Zellkernspaltung gestellten erinnern. Es scheint, daß die Ethik (als Zweig der Philosophie und nicht der Volksverdummung) und die Wissenschaft (als biologische Feinmechanik und nicht als intellektuelle Tätigkeit) sich sehr verschiedene Gedanken darüber machen, was Leben ist. War Leben für Hegel das "unbegreifliche Geheimnis", so ist es für die hier ins Auge gefaßte Wissenschaft ein regelgemäßer Betriebsablauf, so wie eine vorzeitig eingetretene Krankheit eine Betriebsstörung ist. Wenn demnach der Bioethiker die Lehren der Moral auf das Leben, das er kaum begreifen kann, oder besser auf die Erforscher des Lebens, die Biologen, anwenden soll, sieht er sich mit einem sehr verschiedenen Menschenschlag konfrontiert. Er hat kein Mandat, er hat es mit oft recht bornierten Leuten zu tun. Weiß er eigentlich, wer was von ihm erwartet? Was er für das Höchste auf der Welt hält: weiß er, was es von ihm erwartet? Weiß er, was er auf sich genommen hat; hält er sich dessen für würdig? Die Meinungen darüber, was Ethik und Moral bedeuten, gehen auseinander. Ich kenne keine schlichtere Definition, als diejenige, die Chamfort gegeben hat: Jouis et fals jouir, sans faire de mal ni a toi ni a personne, voila, je crois, toute la morale. Freude haben und Freude machen -, da muß sich jeder echte Ethiker wohl fühlen; nur freuen sich die Menschen, fragwürdig wie sie sind, auch an sehr häßlichen Dingen. Chamfort hat es, meistens besser getroffen als mit dieser eher anspruchslosen Forderung.
Es ist unwahrscheinlich, daß eine Warnung oder Ermahnung (kann der Bioethiker mehr tun?) die er an einen echten Naturwissenschafter richtet, Gehör finden kann. Damit das geschieht, müßte dieser sich verstellen; aber ich möchte wetten, daß fast immer ein echter Molekuiarbiologe einem falschen Bioethiker gegenüberstehen wird. Der einzige wahre religiöse Fundamentalismus, dem man jetzt begegnet, ist der der Naturwissenschaften; so wie manche eingebildeten Ergebnisse der Wissenschaft mit manchen religiösen Visionen verglichen werden könnten.
Es ist gut, daß nicht jede Frage beantwortet werden kann, und wer sich aufwirft, Antworten zu geben, die er nicht vertreten kann, tut übel. Das, fürchte ich, ist der Fall der Bioethiker; sie kommen einem lebhaften Bedürfnis entgegen, aber keinem legitimen. Gezwungen, ihre Hände zu halten über einige der abstoßendsten Geschäfte, die die Wissenschaften je gesehen haben; genötigt, vielen mehr als fragwürdigen Manipulationen der Keimbahn zuzustimmen; willens, im Gestank ungeahnter therapeutischer Kannibalismen zu verweilen, muß jegliche Ethik sich längst verflüchtigt haben. Jedenfalls kann man, einen alten Scherz wiederaufwärmend, feststellen, daß die Ethik sich zur Bioethik so verhält wie die Musik zur Militärmusik.
Wir haben eine der scheußlichsten Epochen der Weltgeschichte durchlebt; ich bin überzeugt, daß die beginnende Vergewaltigung der Natur durch die Forschung unter die verhängnisvollsten Verirrungen gezählt werden wird. Diejenigen, die behaupten, dieses Vorgehen sei in Ordnung, denn es diene guten Zwecken und werde aufs schonendste durchgeführt, machen einen entsetzlichen Fehler. Sie ahnen nicht, wie gefährlich es ist, sich den Grenzen des Lebendigen auch nur zu nähern. Alles, was wir tun, und auch manches, was wir zu tun unterlassen, rührt an Bereiche, die wir nicht zu überschauen, ja nicht einmal zu nennen vermögen. Das gilt für alles, was mit dem Lebendigen zu tun hat.
Autor
Erwin Chargaff, Professor Dr. phil., geboren 1905. Von 1922 bis 1928 Studium der Chemie in Wien. Danach Forschungsund Lehrtätigkeit an mehreren Universitäten, seit 1935 an der Columbia-University, New York, dort zuletzt Direktor des Biochemischen Instituts, 1975 emeritiert. Wichtige Arbeiten insbesondere auf dem Gebiet der modernen Biochemie. Die folgenden, deutsch geschriebenen Bücher sind alle bei Klett-Cotta, Stuttgart, erschienen: Das Feuer des Heraklit (1979), Unbegreifliches Geheimnis (1980), Bemerkungen (1981), Warnungstafeln (1982), Kritik der Zukunft (1983), Zeugenschaft (1985), Abscheu vor der Weltgeschichte (1988), Alphabetische Anschläge (1989), Vorläufiges Ende (1990), Vermächtnis (1992), Ein zweites Leben (1995) Anschrift: 35o Central Park West, New York, NY 100256503, USA Der hier abgedrucke, gekürzte Essay erschien zuerst in der Zeitschrift SCHEIDEWEGE. Wir danken Autor und Redaktion für die Druckerlaubnis.