Südwest-Presse Ulm 31.12.1999
Interview mit Claus Fussek, unserem Mann des Jahres
Es gibt immer mehr, die sagen:
Claus Fussek gibt nicht auf. Ohne falsche Rücksichten prangert der Münchner Sozialarbeiter Missstände in Pflegeheimen an. Einst als Nestbeschmutzer beschimpft, erlangt er immer mehr Anerkennung. Patrick Guyton sprach mit ihm.
* Herzlichen Glückwunsch, Herr Fussek. Für die Leser unserer Zeitung sind Sie der Mensch des Jahres. CLAUS FUSSEK: Vielen Dank, das freut mich riesig. Es stärkt mich in dem Gefühl, dass Missstände in Altenheimen immer mehr zum Thema werden. Ich sehe diese Auszeichnung auch als Aufwertung der Pflegekräfte, die vor Ort unter sehr schweren Bedingungen arbeiten. * Wie sind Sie denn überhaupt zu Ihrem Thema gekommen? FUSSEK: Als Sozialarbeiter bin ich eigentlich seit mehr als 20 Jahren damit befasst. Unser Verein, für den ich arbeite, die Vereinigung Integrationsförderung in München, bietet ambulante Betreuung von alten Menschen und Kranken an. So wurden wir damit konfrontiert, dass es in Pflegeheimen oft am Nötigsten fehlte. Das waren einfache Anfragen - etwa, ob ein Zivi von uns mal mit der Mutter in den Garten oder ins Café geht. Irgendwann waren wir dann Anlaufstelle für Probleme in Heimen in der ganzen Bundesrepublik. Am 27. April 1997 haben wir dann eine Lawine losgetreten. * Wer sind "wir", und was war an diesem 27. April 1997? FUSSEK: "Wir" waren damals einige wenige - unter anderem der Münchner Rechtsanwalt Alexander Frey und zwei, drei engagierte Menschen. Wir haben damals - zum x-ten Mal - in München eine Pressekonferenz zu einem Altenpflege-Thema gemacht. Und zwar darüber, dass sehr viele Menschen ausgetrocknet oder wund gelegen von Altenheimen in Krankenhäuser gebracht werden. Darüber wurde dann sehr engagiert berichtet. * Was passierte dann? FUSSEK: Zunächst ging in München eine Debatte los, in den Zeitungen gab es täglich ganze Leserbriefseiten. Der Stadtrat hat dann - damals einzigartig in Deutschland - eine Beschwerdestelle für Menschen in Heimen geschaffen. Das Echo insgesamt war riesig. Wir waren erstaunt und erschrocken über das, was in vielen bundesdeutschen Pflegeheimen Alltag zu sein scheint. Ich habe mittlerweile 40 Aktenordner voll mit teils furchtbaren Fällen. * Hält man das als Mensch aus, stumpft man da nicht ab? FUSSEK: Für mich persönlich waren die vergangenen drei Jahre die härtesten meines Lebens. Aber auch die wichtigsten. Es wurde deutlich, dass man noch etwas bewegen kann. Inzwischen sind wir viele, viele Mitstreiter geworden - darunter auch immer mehr Pflegekräfte, die aus der Anonymität heraustreten. Ich habe eben einen Brief von einer Pflegerin aus Rosenheim bekommen, die - mit Namen - Anzeige erstattet gegen den früheren Heimbetreiber. Und was mich daran besonders freut: Ihr jetziger Heimleiter ist stolz auf seine kritische Mitarbeiterin. * Wie sieht Ihr Arbeitstag normalerweise aus? FUSSEK: Ich bekomme täglich Post und Anrufe. So kam es jetzt zum Termin mit dem Personal eines Münchner Pflegeheimes, das gespenstische Arbeitsbedingungen hat. Die trauen sich noch nicht an die Öffentlichkeit, wollten aber mit mir reden. Es gibt immer mehr, die sagen: Jetzt reicht's, jetzt wehren wir uns. * Der Bürger fragt sich: Müssen wir denn noch mehr Geld für die Pflege ausgeben? FUSSEK: Man kann mit Menschenwürde argumentieren, aber auch volkswirtschaftlich. Die Krankenkassen bezahlen Milliarden für eine schlechte Pflege. Wir sparen vermeintlich am Pflegepersonal und bezahlen dann ein Vielfaches für die Krankenhäuser, in die die Menschen eingeliefert werden müssen. Nach Schätzungen könnte man allein mit der Vorbeugung und Verhinderung von Druckgeschwüren vier Milliarden Mark sparen. 100000 Brüche durch Stürze könnten vermieden werden, wenn mehr Personal da wäre, das gemeinsam mit den alten Menschen läuft. Jetzt funktioniert es aber genau andersherum: Eine Krankengymnastin beispielsweise erzählt, dass sie Leute mühsam wieder zum Gehen bringt. Wenn die Gymnastik vorbei ist, bekommen die Menschen einen Beckengurt angelegt - damit sie nicht aufstehen und stürzen, weil kein Personal da ist. Ein solches System ist zynisch und absurd. * Obwohl immer mehr über ihr Thema gesprochen wird, gibt es noch keine größere Lobby für Menschen in Heimen. FUSSEK: Ich stelle einige markante Dinge schmerzlich fest: Bislang hat keine bekannte Frauenorganisation Partei ergriffen für pflegebedürftige Frauen. Mich erschüttert das Schweigen der Kirche. Mir fehlt eine deutliche Position in einer Regierungserklärung - und sei es nur ein Nebensatz, der mehr enthält als Wortkosmetik. * Welchen Rat geben Sie dem Pflegepersonal? FUSSEK: Es ist ein Teufelskreis entstanden: Die Arbeitsbedingungen sind schlecht, deshalb hören 80 Prozent der Altenpfleger nach spätestens fünf Jahren im Beruf auf. Rein ökonomisch gesehen, ist das Wahnsinn. Erst wird viel Geld in die Ausbildung investiert, dann sind die Arbeitsbedingungen aber so schlecht, dass die Leute es nicht mehr aushalten. Diesen Teufelskreis muss das Personal durchbrechen. Es darf nicht länger schweigen. * Wie geht es weiter mit Ihnen? FUSSEK: Wir müssen nun verstärkt in eine grundsätzliche, auch ethische Diskussion treten. Die Kernfrage lautet: Wie wollen wir im Alter wohnen, leben, gepflegt werden? Der Satz "Wir haben kein Geld" ist falsch. Ehrlich müsste er lauten: "Für diese Menschen haben wir kein Geld." * Also wenig Optimismus? FUSSEK: Doch, doch. Früher wurde ich immer wieder als Nestbeschmutzer bezeichnet. Jetzt schreiben mir Heimleiter: "Was Sie machen, ist wichtig." Ich habe noch nie soviel ermutigende Weihnachtspost bekommen wie jetzt - auch von vielen alten Menschen, die noch in Sütherlin-Schrift ganz rührend schreiben. Irgendwie macht mich das auch ein bisschen stolz.
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