Wir dürfen das Tabu nicht aufgeben
Warnung vor den Folgen des Euthanasiedenkens
von Prof. Dr. Robert Spaemann Wer ein Tabu bricht, hat zunächst einen argumentativen Vorsprung. Nicht nur Borniertheit, Dumpfheit und Unmündigkeit leben ja vom passiven, schweigenden, unreflektierten Einverständnis, auch die Fundamente der Humanität bedürfen der Verankerung in der Tiefe des Selbstverständlichen und der Fähigkeit zur schlichten Empörung, wo sie in Frage gestellt werden. "Wer sagt, man dürfe auch die eigene Mutter töten", so schreibt Aristoteles, "hat nicht Argumente, sondern Zurechtweisung verdient." Zurechtweisung ist gerade kein Argument. Der Zurechtgewiesene kann, wenn er insistiert, den Diskurs am Ende erzwingen und zum Nachdenken über die Gründe der Selbstverständlichkeit nötigen. Schon Sokrates wußte dem Zyniker es für diese Nötigung Dank. Durch sie findet eine Scheidung jener Tabus, deren Gründe das Licht scheuen müssen, von jenen anderen statt, die, einmal ans Licht getreten, die Empörung über ihre Verletzung als angemessene Reaktion erscheinen lassen. Es wäre ja etwas in einer Zivilisation nicht in Ordnung, wenn der Satz "Das Leben eines neugeborenen Kindes ist weniger wert als das eines ausgewachsenen Schweins" nicht - allem Nachdenken vorausgehend - einen Reflex des Abscheus hervorrufen wurde. Peter Singer, der diesen Satz in seiner "Praktischen Ethik" niederschrieb, würde diesen Reflex als Ausdruck eines kruden "Speziesismus" abtun, das heißt unreflektierter Parteilichkeit für die eigene Spezies. Die Verblüffung durch die Thesen Singers und durch seine Durchbrechung des seit 1945 herrschenden Euthanasietabus beginnt erst allmählich einem sokratischen Nachdenken über die guten Gründe für dieses Tabu zu weichen. Solchem Nachdenken war eine Tagung der Sophienstiftung im oberbayerischen Kinsau im Sommer 1990 gewidmet, aus der das Kinsauer Manifest hervorging. Aufgeschreckt hat die Verfasser der Vorschlag von Rita Süßmuth, den Schutz menschlichen Lebens im Grundgesetz durch einen Passus zu ergänzen, der ausdrücklich den Schutz des Lebens ungeborener, behinderter und sterbender Menschen erwähnt, so als sei das Menschsein der genannten Gruppe nicht mehr selbstverständlich. Was bedeutet eine solche Grundgesetzergänzung, wenn man bedenkt, daß mit diesem Vorschlag zugleich die Forderung erhoben wird, das Leben Ungeborener in letzter Instanz zur Disposition der Mutter zu stellen? "Soll künftig", so fragen die Unterzeichner, "der Schutz des Lebens Behinderter und Sterbender analog dem Schutz ungeborenen Lebens im 218 gestaltet werden? Wird es künftig Gremien geben, die über lebenswertes und lebensunwertes Leben befinden? Wird es künftig ein Indikationsmodell für Pflegebedürftige geben? Wird künftig ihr Recht auf Leben abgewogen werden gegen das Interesse derer, die physisch und materiell die Last der Pflege zu tragen haben - eine Last, die weit schwerer wiegen kann als die einer ungewollten Schwangerschaft? Werden die Kirchen Konfliktberatungsstellen nach dem Muster der bereits bestehenden einrichten, deren Konsultationsbescheinigungen straffreie Tötung ermöglichen?" Euthanasie - eine verführerisch einfache Lösung Die Fragen sind leider nicht rhetorisch. Sollte es wirklich purer Zufall sein, wenn die öffentliche Forderung nach moralischer Enttabuisierung und gesetzlicher "Regelung" der Euthanasie in einem Augenblick erhoben wird, wo die anormale Altersstruktur unserer Gesellschaft, die Entwicklung der Medizin, der Pflegenotstand und die wachsenden Pflegekosten einen Problemdruck erzeugen, für den sich hier eine verführerisch einfache Lösung abzeichnet? Hier erheben nun die Befürworter der Euthanasie Einspruch. Insbesondere weisen sie jede Analogie zu dem nationalsozialistischen Euthanasieprogramm zurück. Damals sei es um Tötung von Menschen gegangen, deren Leben für die Gesellschaft nutzlos und deren Pflege eine überflüssige Belastung schien. Heute gehe es umgekehrt nur um jene Menschen, deren Leben aus der "Innenperspektive", also für diese Menschen selbst, "lebensunwert" sei. Dabei wird unterschieden zwischen "Tötung auf Verlangen" und Tötung solcher Menschen, die ihr Interesse an Beendigung des Lebens nicht selbst artikulieren können, also sozusagen "Geschäftsführung ohne Auftrag". Da Peter Singer aber den Personenstatus von Menschen ohne Rationalität und aktuales Selbstbewußtsein bestreitet, soll das Leben solcher Menschen auch zur Disposition im Interesse anderer gestellt werden, also zum Beispiel wenn es sich um Kinder handelt, deren Eltern lieber ein weiteres, gesundes Kind haben möchten, als ein mongoloides großzuziehen. Hier wird bereits deutlich, daß jener gleitende Übergang von der "Innenperspektive" zur "Fremdperspektive" zumindest bei Peter Singer sehr wohl besteht. Daß er besteht, wußte ein Massenpsychologe wie Joseph Goebbels genau, als er in den vierziger Jahren den Film "Ich klage an" drehen ließ, in welchem Sympathie für eine Mitleidstötung auf Verlangen und Antipathie gegen den Staatsanwalt geweckt werden sollte, der den Täter unter Anklage stellt. Mit diesem Film, der heute ohne weiteres allen Anforderungen der neuen Euthanasiebefürworter genügte, sollte psychologisch die massenhafte Ermordung der Insassen von Heilanstalten vorbereitet werden. Und wo immer diese Ermordung öffentlich gerechtfertigt wurde, da geschah es mit dem Hinweis darauf, daß diese Menschen doch "nichts vom Leben haben". Übrigens wurden bekanntlich auch die Morde der Wiener Krankenschwestern an lästigen Alten als Mitleidstötungen deklariert. Die Tötung auf Verlangen ist, wie das Kinsauer Manifest sagt, die "Einstiegsdroge in die Euthanasiegesellschaft". Die Beihilfe zum Selbstmord wird ja bereits geschäftsmäßig organisiert und stößt sogar auf eine gewisse öffentliche Akzeptanz. Das Manifest macht darauf aufmerksam, was die Legalisierung einer solchen Praxis bedeuten würde, und es ist wichtig, sich dies ganz klar zu machen. Sie würde bedeuten, daß alle persönlichen und materiellen Aufwendungen für einen chronisch kranken oder siechen Menschen plötzlich in dessen eigene Verantwortung fallen. Er ist nun schuld an allen Opfern, die für ihn gebracht werden müssen, da er ja von der Möglichkeit keinen Gebrauch macht, seine Mitwelt von dieser Last zu befreien, sich durch jenen Federstrich, mit dem er um Tötung ersucht. Wer zwischen zwei legalen Möglichkeiten die eine wählt, ist für die Folgen verantwortlich. Wo das Weiterleben nur eine von zwei legalen Optionen ist, da hat jeder künftig alle Lasten zu verantworten, die sein Weiterleben für andere bedeutet. Kein Weg, keine noch so ausgeklügelte Vorkehrung führt an dieser erbarmungslosen Logik vorbei. Unter solchen Umständen mag dann, wenn das gesellschaftliche Tabu sich allmählich aufgelöst hat, für einen sensiblen Kranken das Leben wirklich aus der "Innenperspektive" unerträglich werden. An einer Praxis, die ihrer Natur nach solche Folgen haben muß, muß auch an sich etwas falsch sein. Gewaltsame Lebensverlängerung ist nicht human Auf einen anderen Punkt kommt das Manifest am Schluß noch zu sprechen: die Grenzen der ärztlichen Behandlungspflicht angesichts der wachsenden Möglichkeit der Lebensverlängerung durch die "Apparatemedizin". Schon vor zwanzig Jahren habe ich den Ruf nach Euthanasie als unvermeidliche Folge der neuen Formen gewaltsamer Lebensverlängerung prognostiziert. Es ist nicht human, jeden Menschen, dessen Organismus definitiv versagt und mit dem es zu Ende geht, mit allen Mitteln zum Leben zu zwingen. Menschen haben ein Recht darauf, daß man sie menschenwürdig sterben läßt. Das ist übrigens auch deshalb dringlich, weil die neuere Definition des Todes als Hirntod die Möglichkeit eröffnet, den menschlichen Organismus - nach dem Tod der Person - als Ersatzteillager für Lebendorgane so lange am Leben zu halten, wie dies durch die Bedarfslage geboten ist. Nur Dänemark hat sich geweigert, dieser neuen Definition zuzustimmen, und zwar mit der Feststellung, daß es eine im strengen Sinne "wissenschaftliche" Definition des Todes gar nicht geben kann, daß der Tod ein intersubjektives Ereignis ist, und daß wir den Tod tatsächlich als "Herztod" erleben. Sterbenlassen ist keine Tötung Gegen die Unterscheidung zwischen passivem Sterbenlassen und "aktiver Sterbehilfe", also Tötung, ist geltend gemacht worden, sie sei, wie jede Unterscheidung zwischen Handeln und Unterlassen, ethisch irrelevant. Es sei kein Unterschied, so schreibt zum Beispiel G. Meggle, ob eine Mutter ihren Säugling verhungern lasse oder mit einem Kissen ersticke. Dieses Beispiel ist falsch gewählt. Solange ein kindlicher Organismus von sich aus Durst hat und zu trinken verlangt, ist es in der Tat Mord, ihm die Stillung des Durstes zu verweigern. Die Natur des Menschen, der Trieb, durch den seine "ökologische Nische" definiert ist, stiftet so etwas wie eine basale Normalität dessen, was wir ihm schulden, so daß die Verweigerung des Geschuldeten Tötung ist. Es gibt aber keinen natürlichen Trieb jedes Organismus', der nach künstlicher Ernährung durch den Tropf, nach Antibiotika und nach Herz-Lungen-Maschinen verlangte. Was über die basale Normalität humaner Pflege und Zuwendung hinausgeht, ist letzten Endes Sache einer verantwortlichen Abwägung und deren Unterlassung deshalb nicht mit aktiver Tötung gleichzusetzen. Die intuitive Unterscheidung zwischen Handeln und Unterlassen kann theoretisch nur eingeholt werden, wenn wir das "Natürliche" als eine in gewisser Weise kulturinvariante, basale Normalität anerkennen. Ärzte verstehen diese Unterscheidung zwischen Töten - aktivem und solchem durch schuldhafte Unterlassung - einerseits und "eines natürlichen Todes sterben lassen" andererseits ebenso leicht wie fast jeder normale Mensch. Warum haben es Philosophen damit so schwer? Wohl weil ihr keine "klare Idee" im Sinne Descartes' zugrunde liegt. Aber Descartes wußte - im Unterschied zu diesen Philosophen - daß Leben selbst keine "klare Idee" ist und daß man die natürliche Einheit von Bewußtsein und Leiblichkeit nur leben kann, wenn man darauf verzichtet, sie auf cartesische Weise zu denken. Was für den Begriff des Lebens gilt, gilt auch für den des Tötens. Ist eine Mutter wirklich so schwer zu verstehen, die sich weigert, ihr hoffnungslos krankes Kind noch quälenden Chemotherapien unterwerfen oder es an Maschinen anschließen zu lassen, die sich aber ebenso entschieden weigert, diesem Kind eine tödliche Spritze zu geben oder es verdursten zu lassen? Nur phänomenblinde Abstraktion kann jemand dazu bringen, dieser Mutter zu sagen: "Du hast dein Kind getötet." Im übrigen werden wir in Zukunft angesichts der immer aufwendigeren Heilmethoden immer öfter genötigt sein, bei der Anwendung solcher Therapien selektiv zu verfahren. Wir werden sie nicht mehr jedem zukommen lassen können. Es wird Altersgrenzen geben. Heißt das, daß wir immer mehr Menschen "töten"? Tötet eine Familie ihre Großmutter, die von ihr liebevoll gepflegt wird, weil sie nicht das ganze Vermögen aufbraucht und sich über Generationen verschuldet, um das Leben der Frau durch eine raffinierte Operation in den USA um zwei Monate zu verlängern? Die Frage stellen heißt die Absurdität einer Theorie sehen, die dazu nötigt, hier von Tötung zu sprechen und das Unterlassen der unverhältnismäßigen Aktion mit einer tödlichen Spritze gleichzusetzen. Diese Sophistik dient letzten Endes nur dazu, die tödliche Spritze zu verharmlosen. Ein letzter, wiederum pragmatischer Gedanke des Manifests verdient Erwähnung. Es ist die Erfahrungstatsache, daß in einer Zivilisation niemals ein schwieriger und opfervoller Weg zur Lösung eines Problems gesucht wird, wenn ein einfacher einmal eröffnet ist. Und so folgern die Verfasser: "Nur wenn die billige und bequeme Möglichkeit der Euthanasie gänzlich außer Betracht bleibt, können menschliche Kräfte mobilisiert und soziale Phantasie geweckt werden. Nur dann werden menschliche Antworten gefunden auf die Fragen des Altwerdens, der Pflegebedürftigkeit, der Behinderung und des unheilbaren Krankseins in unserer Gesellschaft." Die Befürworter der Euthanasie pflegen ausgewählte, dramatische Fälle extremen Leidens in den Vordergrund zu stellen. Aber schon Epikur wußte, daß extremes Leiden in der Regel kurz ist, wenn wir es nicht künstlich verlängern. Außerdem sollten wir lieber die Frage stellen, warum in Sachen Schmerzbekämpfung Deutschland tatsächlich bis heute ein Entwicklungsland ist. Daß schmerzlindernde Mittel als Nebeneffekt ein moribundes Leben zusätzlich verkürzen können, macht deren Verabreichung nicht zur Tötung - außer wir nennen alles Tötung, was nicht der maximalen Lebensverlängerung dient. Im übrigen aber wird es in einer humahen Zivilisation immer eine Zone des ärztlichen oder freundschaftlichen Ermessens geben, die nicht ans Licht gezerrt gehört. Wer in diesem Ermessen die Grenze des Verallgemeinerbaren überschreitet, wird die Menschlichkeit seiner Motivation am besten dadurch beweisen, daß er lieber das Risiko einer Strafe eingeht, als ein Tabu in Frage zu stellen, dessen Fall die Grundlage der Menschlichkeit unserer Kultur berühren würde.
Robert Spaemann lehrte bis 1993 Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität, München
Aus "LEBENSFORUM - Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V." Nr. 39, 3. Quartal 1994 |
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